Im Rahmen von Shut up and Dance! Reloaded sah ich 2010 in Berlin die Choreographie SONETT XVIII von Tim Plegge. Das Stück hat mich berührt und nachhaltig beeindruckt. Tim Plegge arbeitet in diesem Ballett neben Tanz und Musik auch mit der Sprache. Während der Tanzperformance rezitiert eine Stimme aus dem Off einen Text von Steven Hall aus dem Roman Gedankenhaie. Der Trailer hier vermittelt einen kleinen Eindruck des Ballettstückes. Im April dieses Jahres gibt es ein neues Ballett von Tim Plegge. In Karlsruhe wird dann sein Stück MOMO Uraufgeführt.
Warum starte ich dieses Blog mit einer Performance, die ich bereits vor über einem Jahr gesehen habe? Weil Tanz eine Ausdrucksform ist, die mich schon seit langer Zeit begleitet. Und weil ich mit diesem Blog teilen möchte, was mir gefällt, mich zum Nachdenken anregt, inspiriert, beeindruckt und berührt oder auch meinem eigenen Schaffen entspringt.
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Stell dir vor, du bist in einem Ruderboot auf einem See.
Es ist Sommer, noch früh am Morgen. Die Zeit, wenn sich die Sonne noch nicht von der Landschaft getrennt hat und das Licht mit Tigerstreifen schraffiert. Wenn du durch sie hindurchfährst, sind diese Lichtstrahlen warm, doch in den Schatten ist die Luft noch immer kühl, und das Morgengrau hält sich hartnäckig an den Unterseiten und Kanten der Dinge.
Leichte Böen bestreichen den See, riffeln die Oberfläche und schaukeln dich und dein Boot, während du durch die Yin-Yang-Abschnitte des See gleitest. Vögel singen, ein scharfer Klang ohne das Hintergrundrauschen des geschäftigen Tages. Ab und an greift der Wind in die Zweige und eine etwas größere Welle bricht sich an den Bootsplanken, sonst ist alles still.
Du fasst ins Wasser, bekommst einen Temperaturschock und spürst den Grundrhythmus des Sees als wechselnden Kältestand an deinem Finger. Du ziehst die Hand zurück, du genießt den nachlassenden Schmerz. Du streckst die Hand aus, du schließt die Augen und spürst die kleinen Gesetze von Schwerkraft und Widerstand, während das Wasser auf der Hand sich zu Tropfen sammelt, die bei Erreichen des erforderlichen Gewichts abreißen und mit einem hörbaren Pitsch aufhören zu existieren.
Okay, bis hierhin erst mal, bis zu diesem Pitsch. Schluss mit der Phantasiereise, denn worum geht es wirklich? Es geht um etwas ganz Offensichtliches, Wundervolles und auch Schreckliches: Der See in meinem Kopf, der See, den ich mir nur vorgestellt habe, ist zu einem See in deinem Kopf geworden. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob du mich kennst oder überhaupt irgendetwas über mich weißt. Ich könnte auch tot sein, vielleicht schon seit hundert Jahren, egal. Aber denk darüber nach, nimm es nicht als selbstverständlich hin, denn in Wahrheit hat sich in unserem Inneren eine Wunder abgespielt: Der See in meinem Kopf ist zu einem See in deinem Kopf geworden.
Hinter oder mit den dreihundertsechzehn Wörtern meiner Beschreibung, hinter oder mit den eintausendneunhundertsiebenunddreißig Zeichen ist eine Art Strom geflossen. Ein rein konzeptioneller Strom ohne Masse und Gewicht und ohne Verbindung zu Zeit und Schwerkaft, ein Strom, der nur wahrnehmbar ist, wenn wir ihn aus unserer jetzigen Perspektive betrachten, und der dennoch da ist, ein Strom von meinem imaginären See in deinen.
Als Nächstes versuch dir sämtliche Ströme menschlicher Kommunikation und Interaktion vorzustellen, ganz gleich ob durch Schrift, Bild, das gesprochene Wort, Fernsehkommentare, gemeinsame Erinnerungen, flüchtige Bekanntschaft, miterlebte Ereignisse, anrührende Geschichten von Vergangenheit und Zukunft, Ursache und Wirkung. Siehst Du dieses ungeheure Netzwerk von Seen und fließenden Strömen, seine schiere Größe und Komplexität? Diese gewaltige Netzwerk-Umgebung? Dieses paradiesische Kanalsystem der Informationen, Identitäten, Gesellschaften und Individuen?
Und jetzt kehre noch einmal an deinen See und in dein sanft schaukelndes Boot zurück. Erkennst du ihn wieder. Wenn ja, schau einmal über den Bootsrand. Das Wasser ist klar und tief. Gebrochenes Sonnenlicht schneidet blaue Keile in die reinen kalten Tiefen. Sitz ruhig, warte und sieh zu, was passiert. Rühr dich nicht. Sei ganz, ganz still. Angeblich ist das Leben zäh. Angeblich nutzt es selbst die kleinste Möglichkeit zu Wachstum und Entwicklung, auch in der feindlichsten und unwahrscheinlichsten Umgebung. Das Leben setzt sich immer durch, sagt man. Also sei mucksmäuschenstill und schau in das Wasser. Schau und pass auf, was passiert.
Aus „Gedankenhaie“ von Steven Hall
Seite 58-60, Pieper Verlag 2007
Hinter Nocali steht Nicola. Wandelnd, gestaltend und mit der Profession, die inneren Zusammenhänge durch äußere Formen darzustellen.
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