Symbolfoto
„Die Zeiten, in denen das Alte noch nicht sterben kann und das Neue noch nicht werden kann, sind die Zeiten der Monster.“
— Antonio Gramsci
Ich hatte mit diesem Wahlergebnis „gerechnet“, jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ich vielleicht überrascht werden könnte. Dem war nicht so. Nicht, als ich in der US-Wahlnacht um 1 Uhr ins Bett ging und auch nicht, als ich um 6 Uhr Morgens wieder auf mein Smartphone schaute. Doch auch wenn ich es habe kommen sehen, erträglicher wird es dadurch nicht.
Lange war ich kein sonderlich politischer Mensch. Ich bin immer wählen gegangen, keine Frage. Ich hatte durchaus eine Meinung zu den Dingen mit Brisanz, ich spendete an Umwelt- und karitative Organisationen, ich unterzeichnete Petitionen niemals „blind“. Doch gleichzeitig habe ich mich nicht sonderlich engagiert politisch informiert. Gut gefühlt habe ich mich dabei nie, eine direkte Dringlichkeit daran etwas zu ändern, verspürte ich aber auch nicht.
Wofür ich mich jedoch immer sehr interessierte, war der Teil der Geschichte, den meine Familie bewusst miterlebt hat: die Vorkriegsjahre der 30er, die Zeit während des 2. Weltkriegs und die Jahre danach. Neben dem, was Schule und Medien vermittelten, habe ich bereits als Teenager die mir nahstehenden Zeitzeugen immer wieder ausgefragt und mit ihnen darüber gesprochen. Um so mehr irritierte es mich, als ich im Beitrag „Euch sollte es doch mal besser gehen“ von Heinrich Wefing las, dass er seinen Kindern viele Dinge gar nicht oder nur beiläufig erzählte. Seine Erläuterung nach dem „Warum“ ist jedoch keine andere, als die für mein gewisses politisches Desinteresse:
„… das Grundlegende, die Fundamente, die wichtigsten Spielregeln? Die schienen nicht mehr bedroht. … Und nun kommt es mir so vor, als sei das, was wir da erlebt haben, nur ein Anfang gewesen. Als springe uns die Geschichte wieder an, von allen Seiten. Und wenn das so ist, dann frage ich mich natürlich, was das für meine Kinder bedeutet. Für ihr Leben, für ihre Zukunft.“ — Heinrich Wefing
Es ist nicht „nur“ die Zukunft, die mich beunruhigt. Es ist die Gegenwart, die mich jeden Tag aufs neue fassungslos macht und mit einer gewissen Hilflosigkeit dastehen lässt. Ich ändere also meine Position, ich informiere mich intensiver, ich tausche mich mit Freunden aus, die tiefer im Thema sind als ich und trotzdem weiß ich, das ist nicht genug. Was spricht dagegen, hier mit der gleichen Intensität vorzugehen, mit der ich im Beruflichen recherchiere, analysiere, aufbereite und dann damit weiter arbeite? Unpolitisch zu sein, das ist kein Luxus, den man sich gönnt, das ist Unverantwortlichkeit.
„Was genau es heißt, in diesen Zeiten politisch zu werden, das kann ich gar nicht sagen. … Aber vielleicht ist das auch nicht so schwer. Denn das Diffuse schwindet, das Beliebige, das Gleichgültige. Die Fronten klären sich, die Fragen spitzen sich zu.“ — Heinrich Wefing
Hier kommt meine Sammlung einiger Beiträge, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind und/oder die mir dabei helfen, meine Haltung zu festigen.
Ich weiß ein gedrucktes Medium und qualitativ guten Journalismus zu schätzen, wenn es darum geht, mich reflektiert und inhaltsvoll zu informieren und gleichzeitig aus einem breiten Themenfeld Neues für mich zu entdecken. Überrascht stelle ich fest, dass ich eine vierstündige Zugfahrt inzwischen sehr gut damit verbringen kann, ausgiebig eine Tageszeitung wie die Süddeutsche zu lesen. Jedoch stammen die meisten der folgenden Beiträge aus der ZEIT, denn Johannes hat die Wochenzeitung in diesem Jahr für uns abonniert. Man mag ZEIT-Lesern gegenüber Vorurteile haben, doch ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem dieses Printmedium zur Standardlektüre gehörte. Wenn auch jedes redaktionelle Medium seine intellektuelle und politische Grundausrichtung hat, so hilft mir Druckerschwärze an den Fingern und das Blättern der Seiten ein Stück aus meiner digitalen Filterbubble hinaus.
Im August hatte ich Elisabeth Raethers Beitrag „Was macht die Autoritären so stark? Unsere Arroganz“ zum Themenschwerpunkt „Demokratie“ gelesen, welcher in den Tagen nach der US-Wahl wieder gehäuft im Social Net geteilt wurde. Im Essay der damaligen Printausgabe stand darunter ein Beitrag, der anhand von zehn Punkten erläutert, „was ich tun kann, um die Demokratie zu stärken, in der ich lebe.“ Einzelne dieser Vorschläge sind sicherlich streitbar, doch das war vermutlich mit ein Grund, weswegen mir diese „Ratschläge“ stark im Gedächtnis geblieben sind.
Ein weitere Grund ist, dass ich raus möchte aus der passiven Ecke. Wie und auf welche Weise, dass weiß ich noch nicht. Doch das ich damit nicht allein bin, dass weiß ich sehr wohl. Wie wir uns einbringen könnten, was sinnvoll und nötig ist, um sich für Demokratie, eine resiliente Gesellschaft und für ein am Gemeinwohl orientiertes Europa einzusetzen – darauf basiert der Dialog, in den wir am vergangenen Freitag mit einigen Menschen gestartet sind. Was wir mit dieser Motivation machen, wohin uns unser Anliegen führt, wie und wo wir oder jeder für sich aktiv wird, werden wir sehen. Zunächst einmal macht der Austausch Hoffnung und spornt an.
„Ein Land, in dem sich die Migranten, die Feministinnen, die Behinderten und die Schwulen fremd fühlen, ist nicht das Land, für das man Jahrzehnte gekämpft hat; eine Welt, in der die Natur zerstört und ihre Zerstörung obendrein geleugnet wird, ist nicht die Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen. Dies nur, damit wir uns nicht falsch verstehen. Es ist jetzt eine Zeit des Kampfes, da gibt es nichts zu heulen, da wird dann halt gekämpft.“ — Bernd Ulrich
Bisher ist mir solch ein „Kampf“ nicht vertraut, von dem Bernd Ulrich in seinem Beitrag „Ganz unten … aber nicht am Ende“ spricht. Doch mal abgesehen davon, mit welchen Mittel man diesen gestaltet, was für eine Alternative haben wir? Im Club der abwartenden Schönredner „ist ja nicht so schlimm“ und „wird schon gut gehen“ möchte ich kein Mitglied sein.
Ich mag mich irren, doch ich halte es für falsch, sich als zielführende Strategie verbal auf die gleiche Ebene zu begeben, wie die Rechtspopulisten. Ob wir es gut finden oder nicht, die Welt ist komplex und lässt sich nicht national begrenzen. Es gibt nicht nur böse und gut und keine simplen Antworten! Und das ist es, was Populismus tut: Komplexität mit einfacher Sprache und simplen „Lösungen“ beantworten. Das mag kurzfristig Wirkung zeigen und zum Ziel führen, ist jedoch nachhaltig keine Lösung oder eine zukunftsgewandte Option. Egal aus welcher politischen Wähler-Perspektive.
„Es ist illusionär, Kulturen gegeneinander abschotten und dadurch fixieren zu wollen. Und es ist gefährlich, mit einer solchen Illusion Menschenrechte zu relativieren, etwa gegenüber Leuten, die zu einer Kultur nicht zu passen scheinen.“ — Mark Siemons
In seinem F.A.Z. Beitrag „Identität: Wie deutsch ist eigentlich die AfD?“ analysiert Mark Siemons den „Kulturverlust“ den nicht nur bekennende Rechtspopulisten in ihrem Argumentations-Portfolio vor sich hertragen. Dieser angebliche Kulturverlust durch Multikulti, Liberalismus und offene Genzen ist die Sprache der Identitären, der neuen Rechten und es ist eine sehr gefährliche Sprache wie der Beitrag „Die rechten Fäden in der Hand“ von Justus Bender und Reinhard Bingener unmissverständlich aufzeigt. Zugehörigkeitsgefühl, eine widerstandsfähige Gemeinschaft und Selbstvertrauen lassen sich nicht an Grenzen ausmachen. Identität und Kultur ist dynamisch und unterliegt steter Veränderung.
„Die Antwort der Populisten ist falsch: ‚wir müssen aus dem Euro raus‘. Stellen wir mal anheim, dass das sowieso nicht geht … wir können das gar nicht mehr auflösen – aus diesem Rührei wieder nationale Eier machen.“ — Ulrike Guérote
Ich mochte die Eieranalogie von Ulrike Guérote im Deutschlandfunk-Interview und ihre Art, wie sie Zuhörer und Gesprächspartner durch ein komplexes Thema führt (Podcast). Aktuell lese ich ihr Buch „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“. In diesem Buch kreiert die Autorin eine Utopie für ein demokratisches Europa der Republiken, in dem alle Bürger die gleichen politischen Rechte haben. Sie erläutert die Idee, ein Netzwerk aus europäischen Städten und Regionen anstelle der Nationalstaaten treten zu lassen. Das Buch ist eine interessante Mix: analytisch, clever, inspirierend und provozierend zugleich.
„Wo der Liberalismus absolut gesetzt wird und nicht mehr an das Gemeinwohl – die res publica – gebunden ist, läuft er ins Leere, schlimmer: zerstört das Gemeinwesen. Es ist Zeit, darüber nachzudenken, wie ein dauerhafter europäischer Ausweg aus dieser systemischen EU-Politik erreicht werden kann. Es ist Zeit, auf strukturelle Mangelerscheinungen des EU-Wirtschaftsmodells und seine geringe demokratische Verfasstheit zu verweisen. Und es ist Zeit, beides ernst zu nehmen. ‚If you don’t let the system go, you get a revolution‘, so jüngst ein amerikanischer Politologe. Der europäische Populismus ist möglicherweise der Vorbote einer solchen europäischen Revolution, die politisch zu kanalisieren immer schwieriger werden dürfte. Zeit also, Europa radikal neu zu denken.“ — Ulrike Guérote
Wie realitätsfern ihre Vision eines Europas der Republiken auch erscheinen mag, es ist als Utopie gedacht und Utopien haben nicht den Anspruch in Gänze realisierbar zu sein. Utopien unterstützen uns, die Problematik aus einer anderen Perspektive zu betrachten, um so vielleicht neue Lösungsansätze zu finden.
„Die Utopie ist eine Richtung. Man muss sie nicht heute verwirklichen, aber sie gibt uns den Horizont, den Silberstreifen vor, damit wir uns aufmachen auf den Weg.“ — Ulrike Guérote
Abschließend möchte ich Johannes Newsletter „Productive Procrastination“ empfehlen (in englischer Sprache). Auch er hat seine Gedanken zur aktuellen politischen Lage zusammen getragen und das wesentlich detaillierter und ausformulierter, als ich das hier getan habe. Seinen Text ergänzt er durch verschiedene Leseempfehlungen.
„It will only get easier again, in the way that we get used to the struggle again.
Here we (…) have to step back and listen to those who never had our privileges and thus are very used to the struggle. The privilege that father felt was not shared by all of society. And karma is a bitch.“ — Johannes Kleske
Hinter Nocali steht Nicola. Wandelnd, gestaltend und mit der Profession, die inneren Zusammenhänge durch äußere Formen darzustellen.
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6 Comments
Danke für die interessanten Literaturhinweise, liebe Nicola. Beiträge dieser Art machen Mut, mindestens indem sie zeigen, dass man nicht allein ist mit seiner Angst und Hilflosigkeit, seinem Wunsch etwas zu tun und dem aufkommenden Grauen „Buntes“ entgegenzusetzen. #radikalhoffen
Danke für diesen Text und die Links, liebe Nicola!
Und wenn man die Zeit liest statt Internetz ist man raus aus der angeblichen Filterbubble, total engagiert und stärkt die Demokratie? Also bitte, das ist ja rührend. Fehlt eigentlich nur noch „ich überlege in die SPD einzutreten…“
Utopistisches Intellektuellengeseier hilft da gar nix. Sondern nur: Rechten nicht die Straße überlassen. Das kann aber weh tun. So richtig physisch.
Liebe Nicola,
ich kenne deine Situation gut, denn vor 3 Jahren stand ich an der selben Stelle und habe aber auch noch keine Antworten auf alle Fragen. Für mich steht fest: Wir müssen zunächst uns ändern und Vorbild sein und dann auf andere abstrahlen zu reflektieren, nachzudenken und zu handeln. Wir müssen aus unserer Passivität heraus, die von den uns steuernden Mächten doch so gerne gesehen wird („Brot und Spiele“). Wir müssen begreifen, das wir die Gesellschaft und der Planet sind. Wir können ab morgen unser Konsumverhalten ändern, politische Parteien gründen, Profitmaximimierung beenden. Aber wir müssen es tun und nicht nur darüber reden. Wir könnten Konzerne wie Nestlé einfach ruinieren als Verbraucher und unsere Politiker einfach zum Rücktritt zwingen, wenn wir jeden Abend auf die Straße gehen würde.
Ich persönlich fühle mich auch ohnmächtig ob der Komplexität der Dinge in der Welt und der vielen falschen Richtungen, in die wir als Gesellschaft laufen. Aber ich habe einen Funken Hoffnung auf eine leise Revolution. Texte wie deiner sind ein kleiner Baustein dazu.
Hab Mut und folge deiner Intuition!
Sascha
Und ich danke auch für Deine guten Gedanken.
[…] wäre gelogen. Bisweilen packt mich die schiere Angst. Anfangs nahm ich mir das übel, aber Antonio Gramsci stimmte mich […]